Wir laufen schweigend nebeneinander entlang der staubigen Straße. Es ist eine breite löchrige Straße, die mir aber durch die vielen Autos und Menschen sehr schmal vorkommt.
Uns kommen kleine und große Kinder in ihren schmutzigen und zerfetzen Kleidern, die jeden Tag ihrer nie wieder zurückkehrenden Kindheit auf der Straße verbringen, um Geld zu verdienen, entgegen und bieten uns ihre Waren zum Kauf an.
Am Straßenrand stehen andere Kinder, die tagtäglich mit dem Waschen der teuren Autos der Reichen und Mächtigen dieser Stadt beschäftigt sind, die lange blutige Jahre des Krieges hinter sich hat.
Die an uns vorbeigehenden Menschen schauen uns mit neugierigen und grimmigen Blicken an und geben uns zu verstehen, dass wir nicht hierhergehören.
Seit wir das Hotel verlassen haben, hat er kein einziges Wort mehr gesprochen.
Mit großen Schritten eilt er nach vorne. Seine ernste Miene beunruhigt mich. Die schwarze Tasche, die er die ganze Zeit bei sich trägt, scheint als Antrieb dazu zu dienen, dass er keine Zeit mehr verlieren möchte und fest entschlossen ist, unbeirrt sein Ziel zu erreichen.
Menschen, die misstrauisch jedoch mutig ihren Weg fortsetzen, ständig hupende Autofahrer, die anscheinend bestens trotz der in meinen Augen fehlenden Verkehrsregelung mit den auf Strassen herrschenden chaotischen Zuständen zurecht
kommen, Bettler, die noch einen langen Arbeitstag vor sich haben, Soldaten, die überfordert und vergeblich versuchen, für Ordnung zu sorgen, laute für meine Ohren fremd klingende indische Musik, unbekannte störende Gerüche und der Wind, der an diesem kalten Herbsttag erbarmungslos die schmutzige Erde dieser lauten Stadt zum Tanzen bringt und damit seine Stärke demonstriert, bringen mich dazu, mich klein, schüchtern, fremd und verloren zu fühlen.
Ich habe Angst, die mich dazu zwingt, nach seiner Hand zu greifen. Ich halte seine Hand mit meinen beiden Händen fest.
Er dreht seinen Kopf in meine Richtung und schaut mir in die Augen. Meine Blicke klagen mein quälendes Leiden an und suchen in seinen verschwiegenen Blicken nach Antworten und Erklärungen.
Ich spüre den festen Druck seiner starken Hand. Ich bin in Sicherheit und kann warten, bis ich die Antwort auf meine augenblicklich nicht gestellten Fragen bekomme.
An einer Kreuzung angekommen bleibt er stehen und bitte mich darum, hier auf ihn zu warten.
Er lässt meine Hand los. Mit Fassungslosigkeit melde ich mich zu Wort. Er beruhigt mich und verspricht baldige Rückkehr in einigen Minuten.
Er überquert die Straße, und bevor er die andere Straßenseite erreicht, dreht sich um und lächelt mich an.
Ich sehe ihn auf der anderen Straßenseite in Richtung eines kleinen Jungen zu laufen, der Schuhe putzt.
Das ungewaschene Gesicht des kleinen Schuhputzers, der barfuss auf dem kalten Boden sitzt, gleicht einem
Engelsgesicht. Seine alten, in passenden Farben aufeinander abgestimmten und mit Staub sowie Schmutz beschmierten Kleider stechen mir sofort ins Auge.
Die Kiste, in der er seine Arbeitsutensilien aufbewahrt, spiegelt seinen grauen und tristen Alltag wider.
Bei seinem Anblick fängt plötzlich das kindliche Gesicht des kleinen Schuhputzers an, zu leuchten.
Mit unübersehbarer Höflichkeit begrüßt der kleine Schuhputzer ihn. Sie unterhalten sich kurz, und er übergibt ihm die schwarze Tasche, die er die ganze Zeit bei sich trug.
Sie verabschieden sich lächelnd voneinander.
Nach seinem Fortgang öffnet der Kleine Schuhputzer die schwarze Tasche und schaut neugierig hinein.
Zufrieden schließt er den Reißverschluss der schwarzen Tasche und macht anschließend mit dem Putzen und Färben der vor ihm liegenden Schuhe weiter.
Im Hotelzimmer überfalle ich ihn mit meinen Fragen, auf deren sofortige Beantwortung ich bestehe.
Ich erfahre, dass er kurz nach seinem Aufenthalt in Kabul diesem kleinen Jungen begegnet ist, der morgens zur Schule geht und nachmittags als Schuhputzer arbeitet.
Sein alter Vater ist arbeitslos und zur Zeit krank.
Seit sein älterer Bruder bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist, ist seine Mutter, die Wäsche wäscht, die alleinige Ernährerin der Familie.
Der kleine Schuhputzer unterstützt mit seiner Arbeit seine Mutter, damit sie nicht dazu verdammt ist, die ganze Last des Lebens alleine auf ihren Schultern zu tragen.
Er versorgt ihn in regelmäßigen Abständen wie heute mit Schuhen, die geputzt werden müssen. Für seine gute Arbeit, um die er ständig bemüht ist, bekommt der kleine Schuhputzer mehr Geld, mit dem er seinen Respekt vor seinem lobenswerten Willen, durch ehrliche Arbeit Geld zu verdienen, zum Ausdruck bringt.
Ich schaue meinen Held bewundernd an und kann meine Tränen nicht mehr zurückhalten, die ihm dafür dankbar sind, dass er mir heute vor Augen geführt hat, wie man einem kleinen Mann, der auf Hilfe und Unterstützung angewiesen ist, unter die Arme greifen kann, ohne ihm seine Würde zu nehmen und seinen Stolz zu verletzen.
Arezo
Deutschland
März 2010