Appell der afghanischen Frauengruppe „United Voice of Women for Peace“
Unsere Gruppe, die „United Voice of Women for Peace“, wurde im Jahr 2019
vom afghanischen Friedensministerium ins Leben gerufen, um die für die
Friedensverhandlungen zuständige Kommission der afghanischen Regierung
zu beraten und mit Konzepten zur Friedensstrategie zu unterstützen.
Doch nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021 änderte sich die
Situation für alle Frauen in Afghanistan dramatisch: Frauen werden
systematisch aus der Öffentlichkeit verdrängt. Und alle, Frauen und
Männer, die sich in den vergangenen Jahren für demokratische und
rechtsstaatliche Strukturen eingesetzt haben, werden von den Taliban
unterdrückt, verfolgt verhaftet und getötet. Insbesondere in den Städten
erfahren Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten, Medienschaffende,
Juristinnen und Juristen, Sportlerinnen, Künstlerinnen und Künstler,
ehemalige Regierungsmitarbeitende und Sicherheitskräfte eine massive
Beschneidung ihrer Grundrechte und Freiheiten und müssen Vergeltung
fürchten.
Auch wir selbst wurden bedroht, verfolgt und verhaftet. Fast zehn Monate
lang waren wir in unserem eigenen Land auf der Flucht vor den Taliban.
Wir zogen von einem Versteck zum anderen, weil unser Leben und das
unserer Familien in Gefahr war. Als Frauenrechtlerinnen haben wir uns
jahrelang für das engagiert, was die Taliban verachten und bekämpfen:
gleiche Rechte für Frauen und Männer, eine demokratische Verfassung,
Frieden und Freiheit.
Wir riefen nach Rettung aus Afghanistan und mussten lange warten. PRO
ASYL hörte unsere Stimme und setzte sich für unsere Aufnahme und die
anderer Verfolgter ein. Wir wurden aus der Hölle gerettet. Jetzt sind
wir in Deutschland und in Freiheit. Aber die grausamen Taten der Taliban
gegenüber Tausenden weiteren Frauen und Männern, die Ähnliches erleiden
wie wir, gehen uns nicht aus dem Kopf. Auch ein Jahr nach der
Machtübernahme der Taliban warten Zehntausende immer noch auf eine
Aufnahmezusage und ihre Evakuierung. Der Prozess, bis eine Person
endlich aus Afghanistan ausreisen darf, dauert viel zu lange.
In Deutschland angekommen, engagieren wir uns für diese Tausenden
Zurückgelassenen, die für die demokratischen Werte stehen.
Unsere Forderungen an die deutsche Regierung:
1. Setzen Sie den Koalitionsvertrag sofort um. Dort wurde versprochen,
diejenigen besonders zu schützen, „die Deutschland als Partner zur Seite
standen und sich für Demokratie und gesellschaftliche Weiterentwicklung
eingesetzt haben“. Die Koalition verabredete unter anderem „humanitäre
Visa für gefährdete Personen“, eine Reform des Ortskräfteverfahrens, ein
Bundesaufnahmeprogramm sowie eine Beschleunigung des Familiennachzugs.
2. Wenden Sie den § 22 Absatz 2 Aufenthaltsgesetz für akut gefährdete
Personen weiterhin an. Diese Regelung für humanitäre Visa muss auch
neben einem künftigen Bundesaufnahmeprogramm weiter bestehen bleiben.
3. Evakuieren Sie Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten,
Medienschaffende, Kulturschaffende, Juristinnen und Juristen, Ortskräfte
und andere, die sich für die Menschenrechte, demokratische Werte und
Entwicklung des Landes eingesetzt haben.
4. Reformieren Sie das Ortskräfteverfahren so, wie im Koalitionsvertrag
vorgesehen: Ortskräfte und akut gefährdete Personen müssen weiterhin
auch außerhalb des Bundesaufnahmeprogrammes schnell und unbürokratisch
aufgenommen werden können. Dafür ist eine Reform des Verfahrens nötig,
die den Begriff der Ortskraft auf alle entlohnten und ehrenamtlichen
Tätigkeiten für deutsche Institutionen, Organisationen und Unternehmen
sowie Subunternehmen ausweitet. Das schließt zum Beispiel Personen ein,
die in von der GIZ finanzierten Projekten gearbeitet haben oder als
Selbstständige für diese Projekte tätig waren. Das Verfahren muss daher
auch Ortskräfte, die vor 2013 entsprechend tätig waren, schützen.
5. Passen Sie den Begriff der Familie auf die Lebensrealität in
Afghanistan an. Über die Kernfamilie hinaus müssen Familienmitglieder
aufgenommen werden, die allein durch die Verwandtschaft ebenfalls
gefährdet sind oder sich in Afghanistan nicht allein versorgen könnten.
Unsere Forderung an die Weltgemeinschaft:
1. Die Weltgemeinschaft darf die De-facto-Regierung der Taliban nicht
anerkennen.
2. Humanitäre Hilfe darf nicht zur Anerkennung der Taliban führen oder
diese unterstützen.
3. Auch ältere Mädchen müssen in Afghanistan wieder zur Schule gehen
können. Wenn Organisationen oder Staaten Geld für Schulen in Afghanistan
geben wollen, sollen sie ihre Zusagen daran knüpfen, dass auch höhere
Schulen für Mädchen gefördert müssen.
4. Die internationale Gemeinschaft muss sich dafür einsetzen, dass
Frauen wieder in allen Bereichen und in den Behörden arbeiten dürfen.
5. Die Taliban-Führer dürfen keine Reisefreiheit bekommen, bevor sie
nicht alle Menschenrechte anerkannt haben.
6. Die Organization of Islamic Cooperation
|